Echoes – Cultural Localization

Echoes – Cultural Localization

Project Description

Das ensemble mosaik präsentiert neue Werke von Anothai Nitibhon, Jonas Baes und Alan Hilario sowie ein Repertoirestück von Liza Lim. Die Werke der vier Komponist:innen Liza Lim (Australien), Anothai Nitibhon (Thailand), Jonas Baes und Alan Hilario (Philippinen) beschäftigen sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema der kulturellen Verortung sowie deren Beeinflussung durch globale Entwicklungen.
Jonas Baes fokussiert auf die Diskrepanz zwischen erster und dritter Welt, die sich durch die Pandemie weiter manifestiert hat und zeigt dies am Beispiel der Slums in Manila (Philippinen). Anothai Nitibhon thematisiert kulturelle Grenzbereiche und gründet ihre musikalische Forschung auf der Idee der Interkulturalität und des Dialogs zwischen den Kulturen, indem sie die musikalischen Sprachen eines professionell ausgebildeten, zeitgenössischen Stils mit einer mündlichen Volkstradition verbindet. Mit seinem Werktitel sie kann nicht sprechen verweist Hilario auf die aktuelle Restitutionsdebatte der ethnologischen Museen. Unzählige Kulturobjekte wurden ihres ursprünglichen Kontextes beraubt und somit auch der Möglichkeit kulturell, spirituell oder rituell zu „sprechen“.
Das ensemble mosaik knüpft mit diesem Konzertprojekt an seine Reihe realities, places and displacement of places, die sich mit urbanen Entwicklungen beschäftigt und soziokulturelle Zusammenhänge hinterfragt.

Programmtext von Michael Zwenzner zur Premiere am 26.10.2022:

Von Menschen, Mythen und Bäumen

Sein Gehör zu schenken, sein Denken zu öffnen den vielfältigen Echos kultureller Verortungen: An diesem Konzertabend verwandelt sich die Villa Elisabeth dem Publikum in einen musikalisch wie ideell weit gespannten Resonanzraum für fernenorts auf diesem Planeten komponierte Klänge. Klänge, die von ihren ErfinderInnen begriffen werden als Künder besonderer Einsichten und Vorstellungen über das irdische Dasein von Mensch und Natur; Klangwelten, zuweilen auch emphatische Klangreden, die als musikalische Sinnbilder oder Echokammern geboren sind aus den kaum erträglichen Realitäten des Alltags etwa in den Slums Manilas (in virtual implosion von Jonas Baes), geschöpft aus religiösem wie auch philosophischem Gedankengut eines uralten südostasiatischen Epos (in Trialogue von Anothai Nitibhon) oder inspiriert durch anthropologisch umgedeutete biologische Erkenntnisse über das Wachstum und Wesen der Wälder (in How Forests Think von Liza Lim). Die Unterschiedlichkeit der thematischen und kompositorischen Ansätze mag sich hier und da auch lokal geprägten Erfahrungshintergründen verdanken. Vor allem aber verbindet alle drei KünstlerInnen eine zutiefst humanistisch geprägte globale Perspektive und das Bewusstsein für die umfassenden, oft im Verborgen wirkenden Vernetzungen von Mensch und Umwelt, von Epochen und Kulturen, von Wahrnehmen und Denken, Kunst und Leben.

Auch wenn man dem ensemble mosaik die Rolle als Brückenbauer zwischen lokalen Kulturen gerne attestiert, geht es in diesem Konzert also nicht so sehr um die Möglichkeit der Begegnung mit anderen Kulturen, die in ihrer Breite durch die Auswirkungen der Globalisierung in vielerlei Hinsicht so „anders“ längst nicht mehr sind. Selbst im Bereich komponierter Kunstmusik gibt es heute beträchtliche Schnittmengen des Gestaltens, Darbietens und Rezipierens. Wo die Besinnung auf besondere lokal verankerte Qualitäten kultureller Aktivität – sei es nun auf den Philippinen, in Thailand oder Australien – sowohl für KomponistInnen wie auch das Publikum ohne Zweifel bereichernd sein kann, wäre die pauschale oder vorrangige Einordnung oftmals transkulturell ausgebildeter und kosmopolitisch gesonnener KomponistInnen als Vertreter lokaler Kulturen doch einigermaßen absurd.

Wunden der Welt

Der Philippiner Jonas Baes kann die Unterscheidung zwischen ‚lokal‘ und ‚global‘ ohnehin nur noch ironisch auffassen: „Es ist eine Ironie, weil die gegenwärtige Weltordnung, die die lokale Kultur kontextuell zu schätzen scheint, einen essenziellen Teil der globalen Gleichung zu vernachlässigen scheint: die politische Ökonomie. Die Philippinen, die zu den sogenannten ‚Dritte-Welt-Ländern‘ gehören, sind in Wirklichkeit nur eine Quelle billiger Arbeitskräfte und Rohstoffe. Da es aufgrund der Vorherrschaft gigantischer multinationaler Konzerne, die mit dem lokalen Staat bei der Ausbeutung der Landesressourcen zusammenarbeiten, keine eigenen Industrien mehr gibt, müssen überschüssige Arbeitskräfte aus dem Land ‚exportiert‘ werden, anstatt im Land zu bleiben und die lokale Entwicklung zu fördern.“ Vor diesem Hintergrund erschiene ihm die direkte Übernahme musikalischen Materials aus lokalen Traditionen so, als würde er „zu einer indigenen Gemeinschaft gehen und ihnen ihr Land stehlen“. Stattdessen lasse er sich aber gerne konzeptionell beeinflussen – wie auch in seiner fünfteiligen Komposition für Ensemble, Audio- und Videozuspielungen virtual implosion.

. Das vom ensemble mosaik gesetzte Thema wollte Baes musikalisch adressieren, indem er in seinem Stück jene Realität aufzuzeigen versucht, die er mit den Abertausenden in Slums und Baracken urbaner Randzonen lebenden Armen unmittelbar und ständig vor Augen habe. Durch Aktionen und Gesten, die über das übliche Instrumentalspiel hinaus gehen, durch den Einsatz von Zuspielungen, durch angedeutete Bezüge zu ikonischen Stücken abendländischer Musik (Beethoven, Bach-Gounod, Pergolesi), durch die partizipative Einbindung des Publikums versuche er eine Art Erzählung zu schaffen, ohne dabei eine bestimmte Geschichte über das tägliche Überleben Tausender in den Armenvierteln im Sinn zu haben. Nur sehr bedacht und vorsichtig setzt Baes also Reize, die auf seine außermusikalischen Inspirationsquellen schließen lassen. Auf musikalische, zum Teil instrumentaltheatrale Weise versinnbildlicht er die Distanzen zwischen den so unterschiedlich begüterten Welten und am Ende auch die Hoffnung auf deren Überwindung. In einer Art auskomponierten Nachdenklichkeit verweigert sich die Musik über weite Strecken dem steten Fluss: Unablässig eingeschobene Pausentakte sorgen immer wieder für ein Innehalten, aus dem heraus sich die MusikerInnen zu stets neuen, aus Einzelimpulsen oder -gesten mal dichter, mal lockerer gefügten Verlautbarungen sammeln. An manchen, irritierend mit Fragezeichen markierten Stellen fordert die Partitur sogar zu performativ ausgestellter Ratlosigkeit heraus; und gegen Ende – mit den für den letzten Teil titelgebenden „temporalen Störungen“, die im Französischen auch Schläfenschmerzen assoziieren lassen – artikuliert sich vielleicht auch so etwas wie schmerzliche Betroffenheit.

Wege zur Wahrheit

Als Reaktion auf das Motto „Echoes of Cultural Localizations“ und im Vertrauen auf die von ihr bewunderten Fähigkeiten des ensemble mosaik mit seinem „eigenen, einzigartigen Klang“ hat die gebürtige Thailänderin Anothai Nitibhon ein ungewöhnliches Tanz- und Instrumentaltheaterstück geschaffen. Darin lässt sie die MusikerInnen nach komplexen Vorgaben zum traditionellen Vortrag zweier Tänzer improvisieren. Grundlage für die sechs Szenen von Trialogue bilden Auszüge aus dem über zweitausend Jahre alten Ramakian-Epos, die thailändische Fassung des indischen Nationalepos Ramayana. Dessen in vielen asiatischen Ländern verbreitete Geschichten über den Widerstreit zwischen göttlichen und teuflischen Kräften haben insbesondere die thailändische Kultur bis in ihre soziale Strukturen und Wertvorstellungen hinein stark beeinflusst. Getrieben von ihrer Neugier, wie diese Geschichten von MusikerInnen, die eine halbe Welt von ihr entfernt leben, wiedergegeben würden, der Frage, wie sich die jeweiligen Erfahrungshorizonte miteinander verbinden könnten und der Hoffnung, dass ihr Stück ein gewisses Verständnis für die südostasiatische Kultur vermitteln kann, erkundet Nitibhon in Trialogue sechs zentrale Charaktere des Epos, die in verschiedenen Konstellationen von den beiden immer gleichen Tänzern, aber durchgehend bestimmten Instrumentalparts verkörpert werden. Nach eingehender Lektüre der Szenen und möglichst einfühlsamer Anverwandlung der jeweils zugewiesenen Rollen sollen aus den Charakteren und Handlungen der Protagonisten wie auch dem bildlichen Gehalt der dazugehörigen historischen Wandgemälde passende musikalische Texturen und Gesten abgeleitet und im möglichst spontanen Miteinander diskursiv entwickelt werden. In einigen Phasen weiter wird das Geschehen angereichert um eine von außen – quasi aus der Zuschauerperspektive – beigesteuerte emotionale Dimension mit eigenem klanglichen Gepräge. Diese wird nach voriger Verabredung von gerade nicht in die Handlung involvierten MusikerInnen gestaltet, darunter auch der eine begleitende und von Szene zu Szene überleitende Sonderrolle einnehmende Pianist.

Das Hinzutreten instrumentaler Stimmen als jeweils „dritte Person“ zu den jeweils gegensätzlichen Charakteren der beiden Tänzer, entspricht dem Wunsch Nitibhons, die in der buddhistisch geprägten südostasiatischen Kultur als falsch empfundene klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse aufzuheben. Vor allem veranschauliche das Ramakian-Epos die Existenz eines Spektrums zwischen Gut und Böse sowie die Macht der eigenen Entscheidungen, sich einem der beiden Pole anzunähern oder von sich ihm abzuwenden, so Nitibhon. Entsprechend kann die Perspektive der Geschichte nur mit dem Blick einer dritten Person – also im Trialog – vervollständigt werden. Nur die letzte Szene bleibt einem solistischen Auftritt vorbehalten. Als Verkörperung unzerstörbarer Wahrheit erscheint hier die schöne Prinzessin Sita, einst vom Teufel Tossakan geraubt, vom weißen Affengott Hanuman samt irdischem Gefolge befreit, von Rama als treulos verschmäht, um im Feuer geprüft und von den Göttern freigesprochen schließlich wieder Ramas gnädige Liebe zu finden. „Beim Nachdenken über dieses Epos wurde mir klar, dass zeitgenössische Probleme wie Krieg, Ungleichheit, Diskriminierung und Gewalt im Namen des Guten wie des Bösen überall existieren. Leider handelt es sich dabei um ein globales Phänomen, dem jeder von uns schon begegnet ist, dessen Zeuge wir sowohl in uns selbst als auch in der Gesellschaft geworden sind. Mit diesem gemeinsamen menschlichen Erfahrungen möchte ich die MusikerInnen des ensemble mosaik dazu einladen, in einen musikalischen Dialog mit unseren traditionellen thailändischen Tänzern zu treten – als Antwort auf die Geschichten und Bilderwelten des Ramakian.“

Wunder der Wälder

Mit viertausend Jahren noch weit älter als das Ramakian-Epos ist die chinesische Sheng, eine bis heute weiterentwickelte, mit einem Bündel aus mittlerweile 37 Bambusrohren ausgestattete Mundorgel, der in Liza Lims How Forests Think eine Hauptrolle zukommt. Der Bezug zu diesem Instrument wurde Lim als Kind chinesischer Eltern sozusagen in die Wiege gelegt. In Australien geboren, wuchs sie im Sultanat Brunei an der Nordküste Borneos auf, bis sie 1978 in ihr Geburtsland zurückkehrte, wo sie sich später unter anderem intensiv mit der spirituellen und naturverbundenen Lebensweise der Aborigenes beschäftigte. Als überaus naturverbunden erweist sich auch die Sheng, deren innen liegende Rohrblätter durch den Atem des Musikers so in Schwingung versetzt werden, dass ein flatternder Klang entsteht, der traditionell mit dem sich aus der eigenen Asche erhebenden Phönix assoziiert wird. Lim: „Es hat etwas sehr Organisches, wie die Wechselwirkungen zwischen Atem und Schilfrohr eine Klangblüte erzeugen – man hört eine Spur des Windes im Wald. Weder der Wind noch das Wetter oder das Wachstum von Dingen kann vollständig kontrolliert, eingedämmt oder aufgehalten werden – es gibt einen Sturm von Kräften, der im Wald wohnt. Dieser Sturm ist auch ein Lied in uns.“

Mit How Forests Think bezieht sich Lim auf die Arbeit des kanadischen Anthropologen Eduardo Kohn, der nach ausgedehnten Feldforschungen im Amazonasgebiet in seinem 2013 erschienenen Buch gleichen Titels vorschlug, dass nicht nur Menschen, sondern alle Lebensformen, die an Prozessen der Bedeutungsgebung beteiligt sind, als denk- und lernfähig angesehen werden sollten; dass jedes anhand von Zeichen kommunizierende Wesen als Selbst betrachtet werden kann. So kommt er zu seinem hoffnungsvollen Konzept einer „Ökologie des Selbst“, die sowohl menschliche als auch nichtmenschliche Wesen einbezieht, darunter auch Bäume, die sich nachweislich in Gemeinschaften organisieren. Mit poetischem Zungenschlag beschreibt Lim das wie folgt: „In alten Wäldern kann ein Baumstumpf von den umliegenden Bäumen über Jahrhunderte hinweg durch unterirdische Pilznetzwerke am Leben erhalten werden, die die alten Verbindungen nähren und ein Lied in Gang halten. Man könnte einen Wald als einen Chor oder zumindest als ein Ensemble betrachten. Geschichten, Träume und Gedanken bewohnen vielfältige Formen in einer lebendigen Matrix; sie fordern uns auf, über unseren begrenzten menschlichen Blick und unsere begrenzte menschliche Zeitspanne hinauszublicken. How Forests Think setzt sich aus Instrumentalparts zusammen, die mit ihren Eigenschaften Ranken gleichen, die nach Orten suchen, an denen sie sich festhalten und verzweigen können. Ihre Formen sind aufstrebend, wie Pflanzen, die dem Licht und dem Wasser entgegenwachsen; wie Myzelien, die sich mit Baumwurzeln in einem sich gemeinsam entwickelnden Internet des Pflanzenlebens verflechten. Die Musik entsteht aus sich kreuzenden Gesprächen, die wie Wurzeln, Reben und Pilzgeflechte strukturiert sind.“ Die vier Einzelsätze des in Melbourne und Salvador de Bahia komponierten How Forests Think erscheinen trotz ihrer ausgeprägten Charakteristik – in der Abfolge naturhaft wuchernder Texturen, bizarrer Streicher-Explorationen (für die die Bezeichnung „renaturierter Klänge“ vielleicht passend ist), Scherzo- oder Toccata-artigen Verdichtungen und strukturell locker gefügtem, melodisch expressivem Adagio-Abgesang – wie ein dicht miteinander verwobenes Netzwerk lebendiger Phänomene aus Natur und Kultur, Geschichte und Gegenwart – voller faszinierender Klangwirkungen und unvertrauter Schönheit

Echoes – Cultural Localization

Program 1 (26.10.2022)

Anothai Nitibhon

Trialogue (2022, UA)
für zwei Tänzer, kleines Ensemble und Elektronik

Jonas Baes

virtual implosion (2022, UA)
für Flöte, Klarinette, Schlagzeug, Klavier, Violine, Cello, Video- und Audio-Zuspiel

Liza Lim

How Forests Think (2016)
für Sheng und Ensemble

ensemble mosaik

Kristjana Helgadottir – Flöte, Simon Strasser – Oboe, Christian Vogel – Klarinette , Martin Losert – Saxophon, Nathan Plante – Trompete , Matthias Jann – Posaune, Roland Neffe – Schlagzeug , Ernst Surberg – Klavier, Sarah Saviet – Violine, Karen Lorenz – Viola, Mathis Mayr – Cello, Matthias Bauer – Kontrabass, Arne Vierck – Elektronik / Sound, Eckehard Güther – Videotechnik

Echoes – Cultural Localization

Program 2 (30. und 31.03.2023)

Anothai Nitibhon

Trialogue (2022, UA)
für zwei Tänzer, kleines Ensemble und Elektronik

Jonas Baes

virtual implosion (2022, UA)
für Flöte, Klarinette, Schlagzeug, Klavier, Violine, Cello, Video- und Audio-Zuspiel

Alan Hilario


sie kann nicht sprechen (2022)
für Flöte, Oboe, Klarinette, Bariton-Saxophon, Schlagzeug, Keyboard, Violine, Viola, 2 Celli und Elektronik


Liza Lim

The turning dance of the bee (2016)
für Flöte, Klarinette, Klavier, Violine, Cello


ensemble mosaik


Kristjana Helgadottir – Flöte, Simon Strasser – Oboe, Christian Vogel – Klarinette, Martin Losert – Saxophon,Roland Neffe – Schlagzeug, Ernst Surberg – Klavier, Sarah Saviet – Violine, Karen Lorenz – Viola, Mathis, Mayr – Cello, Niklas Seidl – Cello, Arne Vierck – Elektronik/Sound

Echoes – Cultural Localization

Dates

26. Oktober 2022

Villa Elisabeth, Berlin

30. März 2023

Lange Nacht der jetzt:musik!, Augsburg

31. März 2023

schwere reiter, München

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